Beatrix Wicki

Sitzaufgabe (heute: "wickiseats")

Wie kein anderes Möbel ist der Stuhl seit Jahrtausenden aufs engste mit unseren kulturgeschichtlichen Lebensgewohnheiten verbunden. Unsere Bezeichnungen für die Teile des Stuhls – Rückenlehne, Sitz, Stuhlbeine, Armlehnen – sind unmittelbar dem menschlichen Körper entlehnt. In dieser Sicht lässt sich das Sitzmöbel gewissermaßen als ein zweiter Körper, als repräsentativer Platzhalter unseres Leibes verstehen. Daher verwundert es kaum, dass zahlreiche Künstler der letzten 150 Jahre nicht nur selbst Stühle entwarfen (z.B. Mies van der Rohe), sondern ihn auch zum Thema künstlerischer Überlegungen machten. So ging es Vincent van Gogh, Marcel Duchamp oder Joseph Beuys unter wechselnden Voraussetzungen um künstlerische Antworten auf die Frage, wie der Stuhl die private oder soziale Lebenswirklichkeit des Menschen wiederspiegelt. Der Stuhl rückte in ihren Werken nicht nur als Platzhalter menschlicher Körper, sondern auch als Spiegel unterschiedlicher Lebensformen in den Blick. Den Stuhl zum Gegenstand einer künstlerischen Suche zu machen, schließt stets einen Lebensentwurf mit ein. Für den Menschen ist der Stuhl daher nicht nur Nutzgegenstand, im Feld der Kunst hat er darüber hinaus Modellcharakter für traditionelle oder innovative Lebensentwürfe.

Die kulturhistorischen Anfänge des Stuhls reichen hinter die ägyptischen Dynastien zurück. Als Thron kennzeichnete er den Platz des Herrschers oder Pharaos, der von einem stabilen Ort aus die Lage seines Reichs überdenkt. Bis heute dokumentiert sich im „Heiligen“ oder „elektrischen Stuhl“, im „Chefsessel“ oder im „Sitzungszimmer“ der Stuhl als Ort der Machtausübung und Rechtsprechung. Dem ägyptischen Schreiber diente er als Ort des Reflektierens, des Nachdenkens und Dokumentierens. Der Stuhl steht also mit den Anfängen der Schrift und der Geschichtsschreibung in Verbindung.
Nicht erst bei den „Wüstenvätern“, den ersten Mönchen im dritten Jahrhundert n.Chr., bedeutete die Haltung des Sitzens auch eine meditative Form des Nachdenkens. Wer sitzt, steht nicht in Bereitschaft oder in unmittelbarer Erwartung. Er versetzt sich vielmehr in einen Zustand der äusseren und inneren Ruhe. In diesem Verständnis bedeutete im Keltischen „sidos“ (vom lat. situs = Ort, Platz) auch soviel wie „Frieden“. Unsere Ortsnamen und Etymologien spiegeln dieses alte Verständnis des Sitzens in Worten wie „Einsiedeln“, „Einsiedelei“, „situiert sein“ etc. wieder. Ihr Gegenmodell ist das Nomadenleben, für das sich etwa Joseph Beuys nachdrücklich interessierte. Das Nomadendasein begreift das Leben als einen permanenten Bewegungsfluss und schliesst im gewissen Sinne den Stuhl aus.

Text: Dr.Nicolaj van der Meulen, Kunsthistoriker an der Universität Basel

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